veröffentlicht 2004 in der Hildesheimer Jahrgangs-Anthologie "Stattflucht"
200 Fenster. Erzählung.
Stefan Mesch
Der Dicke hatte das Tor um gut zwei Meter verfehlt. Der Ball fliegt über den Kiesweg und springt die Kuppe hinauf, ein Türkenjunge rennt hinterher. „Einwurf oder weiter?“ fragt er noch im Laufen. „Weiter!“ ruft der Dicke, „Einwurf!“ die Jungs aus der anderen Mannschaft. Der Ball rollt durchs kahle Gebüsch, der Türkenjunge zögert kurz. Dann biegt er die Zweige beiseite. Sie streichen nass und kalt über den Stoff seines Trainingsanzugs. „Mach´ schon!“, rufen die anderen. Der Ball liegt im Sand, vorne bei den Spielanlagen. Der Türkenjunge rennt am blauen Metallgestänge der Schaukeln vorbei bis zu den Holzaufbauten, hebt ihn hoch. Grobkörniger Sand klebt daran. Dann sieht er das Mädchen am Klettergerüst. Es hat blondes Haar, trägt einen blauen Anorak. Jeans und Schuhe sind mit Sand beschmiert. Die Kordel ihres Anoraks ist um den Hals gewickelt. Das obere Ende hat sich im Klettergerüst verfangen, die Schuhe baumeln ein paar Zentimeter über dem Sand. Der Türkenjunge lässt den Ball fallen.
Tamara sieht nicht auf, als sie die Sirenen hört. In diesem Viertel hört man oft Sirenen. Mit ihr hat das nichts zu tun. Tamara passt auf sich auf, ist keine von denen, wegen der Sirenen heulen. Müsste sie nicht wissen, dass die Sirenen etwas mit ihr zu tun haben? Sollte sie nicht aufsehen, sich sagen: das ist der Weckruf, dieses Geräusch wird mein Leben in ein Vorher und ein Nachher spalten? Nein, Tamara geht ins Bad und benutzt ihr Gesichtswasser. Sie weiß nicht, dass wir ihr zusehen. Sonst würde sie jetzt andere Sachen machen: nachsehen, sich sorgen, eine verantwortungsvolle Mutter sein. Gerade ist Tamara aber einfach nur eine Frau, die einen Wattepad über ihre Poren reibt. Wir wollen ihr diese Sorglosigkeit noch kurz gönnen. Jetzt ist es eh zu spät.
Aufstehen, Brötchen kaufen, Computer hochfahren. Dann wollen wir mal, denkt Hannes. Für ihn ist heute kein besonderer Tag. Das kommt erst später. Noch sitzt er an seiner Arbeit, und fühlt sich dabei weder gut noch schlecht. Er freut sich auf eine Verabredung heute Abend, auf den Frühling, und darüber, dass er mit der Abrechnung gut vorankommt. Würden wir ihn jetzt fragen, ob er glücklich sei, er würde die Schultern zucken. Er hat keinen Grund, glücklich zu sein. Hannes bleibt auf dem Teppich. Später, in einigen Monaten, wird er sich an diesen Morgen erinnern, an Brötchen, Sonne, Vorfrühling, und sich sagen, er sei wohl doch glücklich gewesen, irgendwie. Er wird seinen alten Tagesablauf glorifizieren. Irgendwann wird er auf die Frage, wann er am glücklichsten gewesen sei, diesen Morgen nennen. Aber noch weiß er nichts davon.
Montag. Einmal, sie war noch ein Kind, schlug Tamara die Augen auf, und alles war weiß. Sie wartete darauf, dass die Dinge Konturen annehmen würden, aber sie wusste bereits, dass sie von jetzt an blind sein würde. Tamara hatte keine Angst, war nur verwundert, wie schnell so etwas gehen kann. Wollte es gleich der Mutter erzählen, wusste dann nicht, ob sie schon wach war, blieb liegen. Räuspern, um sicher zu gehen, dass sie noch hören konnte. Konnte hören. Immerhin. Die Mutter würde weinen, und bestimmt würden sie ins Krankenhaus fahren. Also nicht in die Schule. Und die Klavierstunde morgen? Die Konsequenzen wurden ihr langsam klar. Sie dachte an die nächste Woche, dann an die kommenden Monate, hangelte sich Jahr für Jahr in die Zukunft. Zum Schluss, sie hatte ihr ganzes Blindenleben bereits durchdacht, wusste sie längst, dass sie nur sehr nah an der Wand lag, weiße Farbe anstarrte. Und trotzdem fragte sie sich weiter, was zu tun sei.
Setz dich damit auseinander, Hannes! Sie braucht dich. Am Telefon klang sie völlig hinüber. Du musst dich jetzt zurücknehmen. Hier geht es nicht um dich. Du warst kein guter Vater, du hast immer damit gerechnet, dass Helen eines Tages vor deiner Tür steht, dir vor die Füße spuckt und sagt, du hättest ihr das Leben versaut. Tja, sieht so aus, als ob das niemals passieren würde.
Eine Nachbarin hörte die Kinder und kam auf den Balkon. Alles schreit durcheinander, sie versteht nicht. Ruft dann doch den Notarzt, rennt zum Klettergerüst, und jetzt wird sie einige Tage lang schlecht schlafen. Angekommen zögert sie, starrt das Mädchen lange an. Wie es da hängt, mit blauen Lippen und glasigen Augen und sich nicht bewegt. So etwas ist noch nie passiert in ihrem Nachbarinnenleben. Sie hat Angst, etwas falsch zu machen. Noch mehr Angst, nichts zu tun. Sie legt das Mädchen auf den Sand, öffnet ihren Anorak. Die Kinder stehen großäugig um sie herum. Sie ist nicht vorbereitet, drückt dem Kind auf der Brust herum. Nicht zu fest, sonst brechen die Rippen. Das hätte auch eines ihrer Kinder sein können. Sie legt ihre Lippen auf den Mund, bläst hinein. Der Krankenwagen braucht lange. Sie fühlt sich alleingelassen, überfordert. Aber sie weiß, dass diese Episode bald vorbei sein wird. Sie hatte einfach Pech. Sie war zu spät, und der Sand ruiniert ihre Schuhe.
Am Lagerfeuer sitzen und Wein aus Pappschachteln trinken. Tamara hatte lange gebraucht, um sich ihre Gefühle einzugestehen, und als sie den Freundinnen davon erzählte, klang das wie eine Beichte. Einen Fisch mit den Händen fangen, Vorpreschen mit einer Narrenkappe auf dem Kopf, auf dem Dachfirst eines Kartenhauses tanzen lernen: keine falsche Bewegung! Immergleiche Fragen, monatelang. „Was soll ich anziehen?“, „Gefallen ihm meine Haare?“, „Bin ich zu dick?“, Tamara wurde zum Klischee und hasste Hannes dafür. Was, wenn er es bemerkt? Schlimmer: was, wenn er es nicht bemerkt? Juli am See, Glühwürmchen und Schnapsleichen irrlichtern über die taufeuchte Wiese, die Akkus der Anlage brechen zusammen, als das erste Licht kommt, auch der Typ mit der Gitarre ist längst außer Gefecht. In die plötzliche Stille hinein sagt Hannes, er würde sie gern küssen, und sie kann zum ersten Mal in dieser Nacht frei atmen. Dann teilen sie sich einen Schlafsack, er zupft ihr ein Insekt aus dem Haar, und sie lässt ihn erst los, als sie merkt, dass sie kleine Druckstellen an seinem Hals hinterlässt.
Dienstag. Beim Aufwachen beschäftigt sie sich mit Helens Tod, als sei es ein abstraktes „Was wäre, wenn...?“-Spiel. Als müsste sie nur den Kopf drehen, weg von der Wand, hin zum Fenster, alles wieder gut. Nichts ist gut. Weitreichende Konsequenzen, konzentrische Kreise um einen ins Wasser gefallenen Stein. Tamara kämpft sich von einem Kreis zum anderen. Mittlerweile weiß sie, dass sie sich über den Tag bringen kann. Vielleicht schafft sie das nächste Wochenende. Wenn sie sich anstrengt, hält sie bis zum Frühling durch. Aber es wird nicht aufhören, egal, wie lange sie die Zähne zusammenbeißt, die Luft anhält. Aufstehen, Frühstück. Kaffee. Kein Pausenbrot. Bräuchte Helen heute ihre Sportsachen? Einen Regenschirm? Tamara steht in der Küche, schaut auf den Stundenplan, will ihn abhängen, wegwerfen, weitermachen und alles vergessen. Tut aber nichts. Starrt weiter die Wand an.
Strangulation mit einem Anorak. Als Tamaras Anruf kommt, will er ihr nicht glauben. Fassungslosigkeit, viel zu lange Gesprächspausen, sie meint es ernst. Aber was sie sagt, ergibt keinen Sinn. Kinder sterben. Sie werden krank, fassen in eine Steckdose, verschlucken einen Legostein, ertrinken im Fluss, ersticken im Schlaf, beugen sich über die Balkonbrüstung und stürzen ab. Aber sie erhängen sich nicht mit einer Anorakkordel an einem Klettergerüst. Tamara ist eine gute Mutter, Hannes weiß, dass sie Helen vor jeder Gefahr ermahnt gewarnt ferngehalten hat. Aber daran hat niemand gedacht. Niemand hätte es wissen können. Später wird er auf eine Petition stoßen, lesen, dass es in Deutschland vier Fälle pro Jahr gibt. Erfahren, dass die Industrie davon weiß, aber nichts tut. Ein minimales Risiko, Helen hätte eher im Lotto gewinnen können, als dass so etwas passiert. Aber es ist passiert.
Der Zug hat Verspätung. Du musst warten. Kannst nichts tun. Keine Panik, das bist du doch gewohnt, oder? Sich zurücklehnen, zusehen, wie alles den Bach runtergeht. Egal: so etwas wie Normalität gibt es jetzt nicht mehr. Lass dich treiben, Hannes! Wut ändert nichts. Hätte könnte sollte, spar dir den Konjunktiv, alles zu spät, du bist auf einer Einbahnstraße. Going nowhere fast. Du wirst 450 Kilometer fahren, um dir dein totes Kind anzusehen. Wirst Tamara zusammenbrechen sehen, Georgs Kalenderweisheiten anhören müssen. Und bei der Beerdigung alle Blicke im Rücken haben, ihr Getuschel: „Der kannte seine eigene Tochter doch kaum!“ Niemand wird deine Trauer ernst nehmen. Wenn doch, werden sie dir vorwerfen, du bist wehleidig oder egoistisch. Für eine Rückkehr ist es jetzt zu spät. Das ist der Punkt, an dem die Geschichte hässlich wird, Hannes. Deine Karten sind verspielt.
Mittwoch. Sie waren noch keine drei Wochen zusammen, als der Hund starb. Tamara wollte einen neuen, Hannes verstand sie nicht „Alles wieder von vorne? Aber du weißt doch jetzt, wie das so ist.“ Ewigkeit, für immer, Hannes hat Angst vor solchen Dingen. Was sollen dann die Anrufe? Tamara weiß doch jetzt, wie das so ist. Kennt deinen Blick morgens im Bad, rauchend ans Fenster gekauert. Kurz nach dem Aufstehen bist du gnadenlos. Abends weißt du, was du willst, wer du bist. Aber am nächsten Morgen durchleuchtest du wieder alles mit deiner Neonröhrengrausamkeit, schiebst dein Kinn vor und fragst dich, wie du nur glauben konntest, an dich, an euch, an die Zukunft. Deine Anrufe kommen abends. Tamara wird erst abnehmen, wenn sie weiß, dass du aufwachen könntest, ohne, euch beide zu verfluchen.
Erst Pizza, dann Cuba Libre, abgespült wird gemeinsam. Tamara weiß nicht, warum sie sich wieder und wieder darauf einlässt. Er ruft an, sie fährt hin, Essen, Videos auf der Couch, Sex, zurück nach Hause und auf den nächsten Anruf warten. Sie liebt ihn, vielleicht ist sie ihm verfallen, sie weiß es nicht mehr. So lange es sich gut anfühlt und gerade schmerzhaft genug ist, um sie wach zu halten, muss es wohl richtig sein, irgendwie.„Jeder ist selbst seine größte Möglichkeit“, hat er einmal gesagt, nur an sich selbst glaubt er nicht. „Du hast was besseres verdient“, „Was willst Du eigentlich von mir?“, „Wie soll das jemals was werden zwischen uns?“. „Es muss nichts mehr werden, es ist schon genug“, antwortet Tamara, manchmal glaubt sie das auch. Später wirft sie sich vor, dass sie niemals Kompromisse machen wollte. Manchmal ist sie stolz, seine Launen zu ertragen, manchmal hofft sie, ihn zu ändern, und manchmal will sie einfach nur, dass es aufhört. Irgendwann wird er begreifen, dass er viel größer ist, als er glaubt. Merken, was er an ihr hat. Noch kann sie darauf warten, und was die anderen denken, ist egal. Er wird wieder anrufen.
Zeitverschwendung. Tamarakennenlernen, Tamaraficken, Tamaraverlassen, alles egal jetzt. Du bist wieder am Anfang, Hannes. Hatte alles keinen Sinn. Früher hast du sagen können: Ja, das war es wert. Aber jetzt? Helen war das einzige, das du jemals auf die Reihe gekriegt hast. Und auch nur halb: du bist weggelaufen, als es ernst wurde. Jetzt bist du draußen. Wie beim Mensch-ärgere-dich-nicht. Zurück an den Start. Fahr mit dem Zug in eure Drecksstadt, lass dir für alles die Schuld geben, und dann fang von vorn an. Du weißt ja jetzt, wie das geht. Irgendwann wirst du dann mit einem Tamaraersatz und einer neuen Helen am Tisch sitzen und sagen: na also. Ein kleiner Umweg, aber du hast ja Erfahrung jetzt. Irgendwas wird dich schon durch deine Tage bringen. Wirst sehen: neun, zehn Jahre, und schon bist du wieder an dem Punkt, an dem du heute morgen warst.
Donnerstag. Im Freibad rutschte ein Junge auf den Kacheln aus und brach sich das Genick. Tamara war damals acht, die Mutter nahm sie zur Seite und sagte: siehst du, das passiert, wenn man... Noch heute geht sie ungern auf nassen Kacheln. Sie hat Helen tausendmal gesagt, sie soll am Beckenrand nicht rennen. Hat sie vor spitzen Gegenständen und Elektrizität gewarnt, vor Kampfhunden, Sonnenstichen, Magenverstimmungen und davor, dass man abends nicht mehr an die Tür geht, wenn es klingelt. Und trotzdem hat Tamara Helen in tausend Tode laufen lassen. Jetzt wird sie zu einer Geschichte werden, die Mütter ihren Kindern erzählen, bevor sie auf den Spielplatz dürfen. Aber das wird ihnen nicht helfen. Alles kann passieren, jederzeit. War es Tamaras Schuld? Natürlich. Aber wir verschulden uns ständig, und bemerken es nicht einmal.
„Ein McRib, ´ne mittlere Cola und ´nen Sechser Chicken McNuggets, zum Mitnehmen“. Hannes steht hinter der Theke und bedient bunte Kinder mit leerem Gesicht, damit sie später auf dem Parkplatz der Großraumdisko etwas haben, das sie gegen aufgemotzte Polos kotzen können. Er ist so alt wie sie, aber seine Samstagabende laufen anders ab. Es braucht wenig, um von der Normalität plötzlich auf eine andere Ebene zu wechseln: eine ernste blonde Frau, eine gemeinsame Wohnung, zwei kleine blaue Streifen, wo sonst nur einer war. „Eigentlich sollten wir erwachsen werden“, auf Zeitschriften klingt das nach milder Koketterie. Ein Kind fordert das selbe, aber lauter. Kein Platz mehr für Kompromisse. Kein Platz mehr für „ich“. Hannes ist kein Opfer, will keines sein, sagt sich: wir schaffen das. Und glaubt doch nicht daran.
Im Zug endlich. Du solltest deine Eltern anrufen. Deinen Chef. Trauer ist Luxus, kannst du dir nicht leisten. Tamara wird sich an deine Schulter lehnen, dir die Finger in den Rücken krallen und sagen: Helen, ach Helen! Aber du willst sie nicht trösten. Sie hat Helen alleine auf den Spielplatz gehen lassen, ihr den verfluchten Anorak gekauft. Tamara hat dir deine Tochter weggenommen. Und jetzt will sie, dass du ihr die Absolution erteilst? Einen Dreck wirst du tun! Helen ist tot. Das kann man nicht verzeihen, vergessen, damit wird man nicht fertig. Nie. Die hat dir überhaupt nichts mehr zu sagen, die soll zusehen, wie sie noch in den Spiegel sehen kann.
Helen ist nicht die erste. Am Anfang hat ihn das mitgenommen: die kleinen Särge, die Terrakotta-Teddys auf den Gräbern. Der Pfarrer gewöhnt sich nur langsam daran. Die Eltern stehen am Grab, hatten immer geglaubt, die einzige Frage sei, wem von beiden ihr Kind als erstes beim Sterben zusehen würde. In fünfzig, in siebzig Jahren. Der Pfarrer hält sich im Hintergrund. Er hat gelernt, sich zurück zu nehmen: höhere Gewalt, Resignation vor Gottes scheinbarer Willkür. Er sorgt dafür, dass es schnell vorbei ist und niemand Anstoß nehmen kann. Lasset die Kinder zu mir kommen. Erst später wird er die Eltern erreichen können. Der Pfarrer hat der Mutter hat ein Buch geschenkt, „Tröstende Gespräche mit toten Kindern“.
Freitag. Warum bist nicht du gestorben, Hannes? Tamara könnte dich dann einfach in eine kleine Schachtel packen und sie verschließen. Es wäre so viel einfacher, dir nachzutrauern als Helen. Du bist nicht viel. Du bist austauschbar, Körper und Gesicht, das Tamara mit Gefühlen vollpumpt. Eine Wand, weiß genug, um dich mit ihren Phantasien zu füllen. Wenn du tot wärst, könnte Tamara ihrer Tochter vorlügen: er war ein komplizierter, bemitleidenswerter, ein wunderschöner, völlig vermurkster Mensch. Wenn sie sagt, sie hasst dich, lügt sie. Und weil du weißt, dass sie lügt, hasst sie dich. Warum Tamara dir nicht antwortet? Weil es absolut unmöglich ist, an deiner Seite mit sich selbst zufrieden zu sein. Du bist so viel Mensch, dass ihr schlecht wird.
Hannes auf der Beerdigung. Umringt umschlossen eingezwängt unter den anderen steht er am Grab seiner Tochter, und denkt: hätte es an diesem Tag geregnet oder hätte Helen in der Wohnung gespielt oder einen anderen Anorak getragen oder wäre sie zu den Schaukeln gegangen statt zum Gerüst oder hätte eine andere Mutter ein anderes Kind zur selben Zeit, das dann helfen oder zumindest um Hilfe rufen oder wäre sie nicht abgerutscht, zumindest anders gefallen, hätte die Kordel nicht zwischen den Balken und um ihren Hals oder hätte sie festen Boden unter den Füßen gehabt, dann wäre das niemals nicht passiert, wäre so etwas. Ist es aber, Hannes. Und jetzt wird er damit zu leben haben, unser Hannes, und wir wollen sehen, wie er sich macht. Noch macht er sich gut, hat sein Jammern eingestellt, hält die Hand von Tamara und hört tapfer dem Pfarrer zu. Und denkt: es ist ein Wunder. Der Tod von Helen ist ein verdammtes Wunder, eine brillante Verkettung unglücklicher Zufälle. So viele Faktoren muss man erst mal zusammenkriegen.
Lachsfilets und Wildreis, für die Kleine Nudeln, sie mag doch keinen Fisch. Tamara ist nicht naiv, sie weiß, dass sie ausgenutzt wird. Dass Georg wegen des Essens kommt, wegen der Familie, wegen Dingen, um die er sich zu lange nicht gekümmert hat. Für beide ist es der zweite Versuch, sie mag ihn, weil er anders ist als Hannes, und, weil sie lange suchen müsste, um... „Das Essen schmeckt ausgezeichnet“, sagt Georg wieder und wieder, sie weiß nicht, ob er es ernst meint oder nett sein will. Die kleinen Lügen, die sie austauschen, halten ihre Köpfe über Wasser. Besser jedenfalls, als immer nur für Helen zu kochen. Helen braucht einen Vater, Tamara einen Grund, zum Friseur zu gehen und sich aufs Wochenende zu freuen, und alles in allem... was will man machen? Sie weiß, was sie wert ist, und was sie fordern darf. Für eine Frau in ihrer Lage reicht es. Immerhin.
Endstation: Betonwüste. Du bist angekommen. Keine 500 Meter bis zur Wohnung. Heb dir deine Gefühle für später auf. Du hast kein Recht, Tamara zu verurteilen. Du hast versagt. Als Partner, Vater, Mann. Du hast deine Familie nicht zusammenhalten können. Hast deine Tochter in diesem beschissenen Viertel aufwachsen lassen. Wärst du geblieben, hätte sie nicht alleine auf diesem Kanackenspielplatz spielen müssen. Du hättest ihnen ein Haus bauen, Helen eine verdammte Bullerbü-Kindheit kaufen können. Deine Tochter hat ohne dich gelebt, und sie ist ohne dich gestorben.
Samstag. Die ersten Tage waren nicht das Problem, sondern die Zeit später, Jahrestage, Familienfeste, Helens Geburtstag. Immer mit dem Wissen: da sollte noch jemand sein, neben mir, bei mir, eigentlich. Aber damit meint Tamara nicht dich, Hannes. Der Abend nach der Beerdigung hat nichts zu bedeuten. Wir wissen, warum es nicht funktioniert. Hätte es funktioniert, dann wäre Helen noch bei uns. Wie könnte Tamara Helen erklären, dass ihr so tut, als sei nie etwas gewesen? Welchen Sinn hätte ihr Tod, wenn ihr jetzt sagt: dumm gelaufen, machen wir ein Neues? Tamara braucht jemanden. Aber sicher nicht dich.
Und Georg? Der steht auf der Beerdigung abseits, weiß nicht, was er sagen soll. Sagt dann: Sei froh, dass es so schnell ging. Stell´ dir vor, Helen wäre krank, behindert, Tod auf Raten. Kurz und schmerzlos. Sagt: Du bist noch jung, dir steht alles offen. Sagt: andere Leute sind schon mit ganz anderem fertig geworden. Du bist stark, wirst schon sehen. Sagt: nimm es dir nicht so zu Herzen, da, wo sie jetzt ist, geht es ihr besser. Georg redet den Schmerz immer kleiner, am Ende ist es, als spräche er von einem verschrammten Knie: aber aber, du wirst doch nicht gleich...? Nennt sie Dummerchen, lächelt es weg. Jetzt beruhige dich doch, darüber haben wir doch schon geredet, so langsam wird’s Zeit, dass du... Ja, sagt Tamara, so langsam wird’s Zeit. Sie geht zur Tür und sagt: Es reicht. Georg sagt erst Dummerchen, und dann Miststück. Und Tamara sitzt alleine vor dem Essen und verspricht sich, nicht zu weinen. Nicht wegen dem.
Vor der Tür. Vor ihrer Tür. Vor ihrem Leben. Sie wartet auf dich, zwischen Helens Bildern und Spielsachen sitzt sie und wartet darauf, dich anschreien zu können. Was dich da drinnen erwartet, hat wenig zu tun mit der Tamara, die du mal kanntest. Die du mal liebtest. Die du kaputt gemacht hast. Du hast Angst? Du hast kein Recht dazu. Hast deine Rechte verspielt, als du gegangen bist. Bring es hinter dich. Nimm sie in den Arm oder lass dich von ihr ohrfeigen oder was auch immer sie tun muss, damit es ihr besser geht. Dann wirst du zurückfahren und weitermachen und alles vergessen. Du hast nichts zu verlieren, weil du schon alles kaputt gemacht hast. Zukunft? Welche denn? Du bist am Ende von etwas, und am Anfang von nichts.
Durchs Nachthemd hindurch hört sie sein Herz. Sie hält sich zurück, will sich nicht festklammern. Hannes hatte ein Hotel vorgeschlagen, Tamara wollte ihm die Couch herrichten, jetzt liegen sie nebeneinander. Es ist zwecklos, sie machen sich nichts vor. Aber für einen Moment, wenn man alles wegschiebt, die Beerdigung, den Schmerz, die Angst, für einen Moment ist es in Ordnung, wie es ist. Tamara wird klar, dass Helen ebenso zufällig und sinnlos war wie ihr Tod. Dass es niemals eine Helen gegeben hätte, hätte Hannes damals auf der Wiese nicht gesagt, er wolle sie küssen. Helen war das Produkt eines Zufalls. Oder eines Wunders. Nicht nur eines. Tamara rechnet. Wie viele Menschen haben sich lieben müssen, damit Helen zur Welt kam? Was, wenn einer von ihnen den Sprung nicht gewagt hätte? Andererseits: wie viele Menschen werden niemals sein, jetzt, wo es keine Helen mehr gibt? Ein zufälliges Wunder. Eine banale Tragödie. Kleine Entscheidungen in einer endlosen Reihe sich ähnelnder Tage. Nein, eben nicht endlos. Und darauf kommt es an.
Sonntag. Tamara sitzt allein am Tisch, denkt nach. Setzt sich mit allem auseinander, schiebt es weg, seziert ihr Leben wie ein totes Tier. Versucht, nicht mehr daran zu denken, geht weiter, bleibt stehen, sieht zurück, tritt auf der Stelle. Sie macht sich Gedanken, macht sich alle Gedanken, die man sich machen kann, und irgendwann sind die Gedanken alle. Helens Tod ist ein Rätsel, sie will es lösen, begreift dann, dass es keine Lösungen gibt, hört auf, hält endlich die Klappe und lässt uns in Ruhe. Ist still. Drüber weg. Alles in Ordnung. Macht es sich zu einfach, zu schwer, fängt wieder von vorne an. Jeder Brief, den sie schreibt, ist voller Lügen, Auslassungen. Jede Sichtweise ist unerträglich naiv, viel zu kompliziert. Irgendwann ist sie stark schwach müde genug, und ruft Hannes an. Sie kann nicht ihr Leben lang die Wand anstarren.
Der Park ist voller Kinder. Frühling. Zwei Endzwanziger sitzen auf dem Klettergerüst. Sie haben Sand in den Schuhen. Weiter hinten spielen ein paar Türkenjungen Fußball. Die Erwachsenen, ein Mann und eine Frau, sehen sich um. Überall Mietshäuser, große Gebäude mit Balkonen, gelb, weiß, grau. Backstein, manchmal. „200“, sagt der Mann. „Genau 200?“, fragt die Frau. Der Mann zuckt die Schultern. „Mehr oder weniger.“ Sie schweigen. Die Kinder machen einen unbeschreiblichen Lärm. Mütter sitzen auf Parkbänken und beobachten sie. Jogger, Einkäufer, Studenten, Paare. „200 Fenster“, sagt der Mann. „Und keiner hat es gesehen.“ Die Frau nickt. Der Lärm ist wirklich unbeschreiblich. „Wir sind mitten in der Stadt. Und trotzdem war sie ganz allein in diesem Moment.“ Der Mann sieht auf seine Hände, dann auf die Frau. Dann verlassen sie den Park. Unsicher. Aber gemeinsam.
STEFAN MESCH